3 UNTERSCHEIDEN, VERBINDEN, ORDNEN
Samstag 21. Juni 2014, 19 Uhr, Hänkiturm, Aadorf
 

Bar 19 Uhr, Beginn 19.30 Uhr
 

Tom Johnson (*1939) Das Sieb des Eratosthenes (1992 – für Esther Ferrer)

„Eratosthenes war ein griechischer Philosoph und Mathematiker der Antike; was man „das Sieb des Eratosthenes“ nennt, ist eine Technik um Primzahlen auszusieben, jene Zahlen also, die nur durch sich selber oder durch eins geteilt werden können. Wenden wir uns, um eine musikalische Demonstration zu machen, den 88 Tasten des modernen Klaviers zu und nehmen wir an, dass diese 88 Tasten die Zahlen 1 bis 88 darstellen... „ (Tom Johnson, in: Musique pour quatre-vingt-huit“, Editions 75, Paris 1988)

Karlheinz Stockhausen (1928 – 2007) Klavierstück IX (1962 – für Aloys Kontarsky)

Zwei kontrastierende, einfache Motive sind das Ausgangsmaterial für das Klavierstück IX: Ein vierstimmiger, in strengem Puls wiederholter Akkord und eine langsam ansteigende chromatische Skala, bei der jede Note eine andere Dauer hat. Dieses thematische Material stösst aufeinander, überlagert und durchdringt sich und treibt schliesslich ein feines Gewebe von schnellen, unregelmässigen Tongruppen hervor, die frei in der Zeit zu schweben scheinen.

Das Klavierstück IX entstand zwischen 1955 und 1961, in den Jahren also, in denen Stockhausen sich intensiv mit der Wahrnehmung der musikalischen Zeit auseinandersetzte. Prägend wurde für ihn unter anderem das von seinem Komponistenfreund Pierre Boulez entwickelte Konzept des Gegensatzes von strukturierter und frei fliessender Zeit.
Stockhausen suchte seinen Werken eine innere Stimmigkeit zu geben, indem er deren sämtliche Material- und Formebenen einer einigenden Proportionsreihe unterwarf. Im Klavierstück IX sind die rhythmischen und zeitlichen Proportionen ebenso wie die Tempoverhältnisse durch die Fibonaccireihe* bestimmt.
* Jede Zahl ist die Summe der zwei unmittelbar vorhergehenden: 1, 2, 3, 5, 8, 13, ...

Robert Schumann (1810 – 1856) Nachtstücke op. 23 (1839)
                             1. Mehr langsam, oft zurückhaltend
                             2. Markiert und lebhaft
                             3. Mit grösster Lebhaftigkeit
                             4. Einfach
Schumann schrieb die Nachtstücke nach der Lektüre der gleichnamigen Erzählungen von E.T.A. Hoffmann. Die von ihm ursprünglich erwogenen Überschriften der vier Stücke „Trauerzug “, „Nächtliches Gelage“, „Curiose Gesellschaft“ und „Rundgesang mit Solostimme“ lassen die Atmosphäre der Erzählungen Hoffmanns erkennen, in denen das Unheimliche, Unfassbare und Abgründige dominieren und wo dunkle Kräfte wirken, die in der Tiefe der Seele verborgen sind.

Kompositionen von Tom Johnson, Karlheinz Stockhausen, Robert Schumann
Claudia Rüegg, Klavier
Claudia Rüegg, Klavier
Klavierstudium (Lehr- und Konzertdiplom Klavier) in Winterthur und Zürich, bei Hadassa Schwimmer, Werner Bärtschi und Erna Ronca.
Studium LKM (Literatur-Kunst-Medien) und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz.
Seit 1991 in der Lehrerbildung tätig, bis 2005 am Seminar Kreuzlingen, seit 2003 an der PHTG.
Konzerttätigkeit als Solistin und Kammermusikerin im In- und Ausland.
Kuratorisch tätig für die IGNM Zürich, das forum andere musik (Thurgau), u.a.
Seit 2008 Stiftungsrätin der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, seit 2010 als deren Präsidentin.
Lebt in Zürich.

Bernard Tagwerker: "to whom it may concern"
Ein Künstlerbuch, das nicht Werke abbildet, sondern selber ein Kunstwerk ist. Das Buch erschien anlässlich des siebzigsten Geburtstages von Bernard Tagwerker im Oktober 2012. Mit diesem Künstlerbuch wird das originale und einzigartige Werk des Künstlers gewürdigt. Die konsistente Grundlage des Werkes von Bernard Tagwerker ist die Zufallsmethode, die benutzt wird, um regelbasiert einen Prozess zur Formgebung einzuleiten, dessen Ausgang ungewiss ist. In diesem Künstlerbuch hat Bernard Tagwerker Textfragmente aus Fachbüchern von mehreren Autoren – die für ihn und seine Arbeit von besonderer Bedeutung sind – in verschiedene Zahlensysteme transferiert. Die umgewandelten Textfragmente der zwölf Autoren, sind in unterschiedlichen Farben gedruckt. Der erste Text ist durchgehend von der Seite 9 bis Seite 200 gedruckt und bildet die Basis für das ganze Buch. Der zweite Text beginnt auf Seite 25. Das zweite Druckfarbwerk wird dazu geschaltet und überdruckt die Seiten 25 bis 200. Dieses Prinzip des Überdruckens wird konsequent bis zum zwölften Textfragment durchgeführt. Das Buch verdichtet sich bis zum Ende immer mehr. Der Effekt, der durch den zwölffachen Überdruck und den dadurch resultierenden Mischfarben entsteht, unterliegt dem Zufallsprinzip und kann weder vorausgesehen noch gesteuert werden.
Der Künstler arbeitet zwar nach dem Zufallsprinzip aber bei der Ausarbeitung seiner Konzepte überlässt er nichts dem Zufall.
Text: vexer-verlag
Biographie
Bernard Tagwerker
1942 geboren in Speicher AR
1957 – 1960 Ausbildung zum Textilentwerfer
1960 – 1963 Académie André Lhote, Paris
1965 – 1967 Académie de la Grande Chaumière (Prof. Yves Brayer) Paris
1968 – 1975 Atelier in St. Gallen
1976 – 1985 Übersiedlung nach New York, USA
seit 1986 lebt und arbeitet in St. Gallen

Preise und Auszeichnungen
1975 und 1979 Swiss Art-Award, (früher Eidgenössisches Stipendium)
1978 Grafik-Preis, Stadt St. Gallen
1999 Preis der „max bill / georges vantongerloo“ Stiftung, Zürich
1999 Kulturpreis des Kantons Appenzell-Ausserrhoden
2000 Kunstpreis, Ortbürgergemeinde Straubenzell
20014 Kulturpreis der Stadt St. Gallen

Ausstellungen (mit der Thematik Zufall)
1987 „Computer und Zufall“, Interaktive Installation bei der Wiedereröffnung des Kunstmuseums, St. Gallen
1989 „Constructivisme versus Computer“, Gallery Faro, Rotterdam
1992 „Zufall als Prinzip“, Wilhelm-Hack Museum, Ludwigshafen/Rhein Deutschland
1992 „Von ordentlichen und unordentlichen Ordnungen“, Kunstmuseum Olten und Musée d’Art, Neuchâtel
1992 „Die Priviligierung des Zufalls“, Kunsthalle Winterthur
1994 „Zufall und konkrete Kunst“, haus konstruktiv, Zürich
1997 „Magie der Zahl“, Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart
http://www.paulhafner.ch/small_tagwerker.html

Über Zsuzsanna Gahses „Donauwürfel“
prachspiele, Wasserspiele, mit ergreifenden Glitzernamen wie „Pfreimd“ oder „Dürrschweinnaab“ (beides real existierende Gewässer übrigens). Dass das Lektüreerlebnis zu bezaubernd oder gar idyllisch wird, verhindern die Würfel-Sujets: Da fordert das Hochwasser seine Opfer, die berühmten Donauwelse schnappen sich kleine Kinder, man fischt die Selbstmörder aus dem Strom und bestattet sie auf dem Friedhof der Namenlosen, Hunnenhorden brandschatzen die Ufersiedlungen, gewaltige Bomben zerstören serbische Donaubrücken, und im sechsundzwanzigsten Würfel ist sogar die Apokalypse nicht fern. Die Sprachvirtuosin Zsuzsanna Gahse brennt in ihren „Donauwürfeln“ ein wahres Sprachfeuerwerk zu Ehren einer europäischen Kulturlandschaft ab, und wäre die Rede vom „poetischen Kosmos“ nicht so überstrapaziert, müsste man sagen: Hier trifft sie zu, im wahrsten Sinne des Wortes! Sie möchten durch Lektüre klüger, beschwingter, ja glücklicher werden? Dann mal los: „Donauwürfel“ ist mit Sicherheit eines der umwerfendsten Bücher der letzten Jahre.
von Klaus Hübner
profil.phtg.ch/claudia.ruegg
www.vexer.ch/
Zsuzsanna Gahse
Andrea Saemann
«mit Primzahlen, Performance dank Esther Ferrer»
Biographie
wurde 1946 in Budapest geboren und lebt seit 1956 im deutschsprachigen Raum; Wien, Stuttgart und Luzern gehören zu den einzelnen Stationen. Heute lebt sie mit dem Bildenden Künstler Christoph Rütimann in Müllheim TG. Zuletzt erschienen von ihr „Das Nichts in Venedig“, Martin Wallimann Verlag, 2010. In der Edition Korrespondenzen, Wien: „Donauwürfel, Gedichte“,2010, „Südsudelbuch“,2012, „Die Erbschaft“ 2013.
Seit dem Beginn meiner Arbeit an «Performance Saga» habe ich parallel zu meiner herausgeberischen und kuratorischen Tätigkeit eigene Performances im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit den Pionierinnen der Performance Kunst realisiert. Die Bezugnahme variiert, das Reenactment bezieht sich auf unterschiedlichste Ebenen der Arbeit.
 
Mit Esther Ferrer teilte ich ihre Faszination für Primzahlen, diese unberechenbaren und unteilbaren Individuen, und kontrastierte sie mit der Fibonacci-Reihe, welche alle Zahlen miteinander in Beziehung setzen will.
 
Andrea Saemann (*1962) lebt und arbeitet als Künstlerin und Kuratorin in Basel. Sie arbeitet gerne in und mit künstlerischen Initiativen und Plattformen. Sie koordinierte 1997-2000 den Kaskadenkondensator, Basel. Seit 2002 arbeitet sie mit «Performance Saga» an einer Aktualisierung und Vermittlung von Performancegeschichte. Seit 2011 koordiniert sie den Performancepreis Schweiz und hat 2014 PANCH, das Performance Art Netzwerk CH mitinitiiert.

Biographie
www.zsuzsannagahse.ch
Ein wahres Sprachfeuerwerk
Wer an einem Fluss aufgewachsen ist, vergisst ihn sein Leben lang nicht. Zsuzsanna Gahse, die in Budapest und später in Wien aufgewachsene Chamisso-Preisträgerin des Jahres 2006, lebt schon lange im schweizerischen Thurgau, also eine gute Autostunde von Donaueschingen entfernt. Die Wasser der angeblich aus dem Zusammenfluss von Breg und Brigach entstehenden Donau sind oft ungestüm, unberechenbar, so etwas wie das Gegenteil eines Würfels mit seinen klaren Kanten und seinen sechs gleich großen Seiten.

Von „Donauwürfeln“ hatte man noch nie gehört. Zsuzsanna Gahses Wort-Neuschöpfung aber leuchtet dem Leser sofort ein: Zehn Silben mal zehn Zeilen bilden ein Quadrat, zehn Quadrate einen Würfel, und aus 27 solchen Sprachwürfeln besteht ihr Text. Das Wunderbare daran ist: Gerade wegen dieser strengen Vers- und Sprachform, in die man sich übrigens ohne Mühe einliest, fließt und mäandert diese aus Wörter und Sätzen geschaffene Donau, nimmt andere Flüsse in sich auf, beherbergt rätselhafte Tiere wie die Huchen, lässt Menschenschicksale, Brücken, Inseln, Fähren, Städte, Dörfer, Sprachen und Kulturen, ja ganze Vergangenheiten vorüberziehen, von ihrer Quelle bis zur Mündung.

Vor allem aber lässt sie tausend Assoziationen zu – allein die Namen: „Neben der Donau gibt es andernorts / die Duena, die Dwina, den Dnepr, / den Don. Merkwürdig wie sich die Namen / ähneln, und am Ende heißen alle / Flüsse gleich, ursprünglich einfach nur Fluss.“ Leuchtende Erinnerungssplitter tauchen auf und wieder unter, Erzählinseln bilden sich und werden wieder überflutet. Die Würfel geben dem Fließenden, Zufälligen, Sich-Verändernden Form und Halt – und bleiben gleichzeitig so beweglich wie das Wasser selbst. Der den berühmten Donaustrudeln in Regensburg verwandte Sog der Sprache wird höchst poetisch kanalisiert, und die Frage „Lyrik oder Prosa?“ erübrigt sich bald. Denn beides verschlingt sich, ringt miteinander, bildet etwas Neues, nie Dagewesenes – und strömt und sprudelt, an Wien, Pressburg, Budapest oder Belgrad vorbei, durch die Eiserne Pforte bis zum Donaudelta und endlich zum Schwarzen Meer.

S

Andrea Saeman
www.performancesaga.ch
/www.musinfo.ch
Biographie
# Programm  RESET
In der Schrift „Theogonie“ schildert der griechische Dichter Hesiod um 700 v. Chr. das Werden der Welt als einen Übergang vom Chaos in das geordnete Universum des Kosmos. Wenn er erzählt, wie dem Chaos Finsternis (Erebos) und Nacht (Nyx) entsprangen und diese später den Tag zeugten, erzählt er auch, wie alles, die Schemen der Nacht und die Ordnungen des Tages in der Formlosigkeit des Chaos gründen.
Durch Zahlen finden wir Form und Ordnung in der Formlosigkeit, sie sind uns ein Mittel um die Dinge in ihrer Verschiedenartigkeit zu erkennen. Mit Zahlen bilden wir Zusammenhänge, Kategorien und Ordnungen, die es uns erlauben, uns in der Welt zurechtzufinden. Zahlen sind uns aber auch Orakel, wenn wir sie in Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Prognosen von der Zukunft sprechen lassen.

Andrea Saemann (*1962) :  Les nombres premiers    Performance

Tom Johnson (*1939 ): Das Sieb des Eratosthenes (1992)               
Karlheinz Stockhausen (1928 – 2007) : Klavierstück IX (1962)    
Robert Schumann (1810 – 1856 ): Nachtstücke op.23 (1839)  Claudia Rüegg, Klavier

Bernard Tagwerker (*1942) : to whom it may concern (2012)  Buchpräsentation

Zsuzsanna Gahse (*1946)   aus: Donauwürfel (2010)  Lesung    

 Bernard Tagwerker : Kommentar  

Programm

„... Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen Geistes, sie dienen als ein Mittel, um die Verschiedenheit der Dinge leichter und schärfer aufzufassen. Durch den rein logischen Aufbau der Zahlen-Wissenschaft und durch das in ihr gewonnene stetige Zahlen-Reich sind wir erst in den Stand gesetzt, unsere Vorstellungen von Raum und Zeit genau zu untersuchen, indem wir dieselben auf dieses in unserem Geiste geschaffene Zahlen-Reich beziehen.“

(Richard Dedekind: Was sind und was sollen die Zahlen? Vorwort zur zweiten Auflage, Braunschweig1893, S. VIII)